Anne Koark kennt sie, diese Tage. Schon in der Nacht haben einen die Grübeleien, warum es nicht geklappt hat, nicht losgelassen. Der Körper zieht sich zusammen, man wälzt im Kopf noch einmal hin und her, was man hätte besser machen können, damit eben nicht passiert, was passiert ist: das Scheitern. „Tagsüber saß ich dann zu Hause im Pyjama und habe überlegt, wie ich die Miete zahlen kann“, erinnert sich Koark, die 1985 von Großbritannien nach Deutschland kam und noch immer ein leicht englisch angehauchtes Deutsch spricht.
Vielleicht liegt es an ihrer Herkunft, dass Koark im Jahr 2003 nicht die Decke über den Kopf zog, als ihr Unternehmen Insolvenz anmelden musste. Vier Jahre zuvor hatte sie Trust in Business gegründet, womit sie ausländischen Firmen bei Geschäften in Deutschland half. Die ersten zwei Jahre liefen super, heimische und ausländische Zeitungen berichteten über Anne Koark. „Dann kamen der Anschlag auf das World Trade Center und die darauffolgende internationale Wirtschaftskrise, und alles brach zusammen“, erinnert sich die 61-Jährige.
Aber es waren nicht nur akute Geldsorgen, die ihr danach zu schaffen machten. In ihrem Umfeld wurde ihre Insolvenz beschwiegen, kaum jemand fragte nach, wie es ihr eigentlich gehe. Wenn sie selbst davon sprach, wechselten die anderen schnell das Thema. Anne Koark merkte: In Deutschland ist Scheitern ein Tabu. „Wenn man hier in die Insolvenz geht, hat man in den Augen der Menschen bewiesen, dass man es nicht kann“, sagt sie. Aus ihrer Heimat kannte sie das anders. In England wüchsen die Kinder mit dem Gedanken auf: Wenn du beim ersten Mal keinen Erfolg hast, steh auf und versuch es noch mal. „In Deutschland aber wird fast erwartet, dass die Leute liegen bleiben, wenn sie scheitern.“
Koark wollte dagegen ankämpfen. Eines Nachts schrieb sie einen Artikel, den die Wirtschaftsnachrichten-Website „Wallstreet Online“ veröffentlichte. Das Echo war überwältigend. 1200 Dankesbriefe erhielt sie, unter anderem von Hinterbliebenen von Menschen, die nach einer Insolvenz Suizid begangen hatten. Der Tenor der Briefe: Endlich spricht mal jemand darüber.
„Da habe ich verstanden, wie schlimm es in Deutschland ist, zu scheitern“, sagt Koark. In dem Moment habe sie den Entschluss gefasst, dass sich etwas ändern müsse. Für sie und für andere gescheiterte Unternehmer*innen, aber auch für die Gesellschaft an sich. „Wenn das Scheitern ausgeklammert wird, bekommen die Menschen einen falschen Eindruck davon, was es ausmacht, ein Unternehmen zu führen.“ Scheitern gehöre einfach dazu. „Bevor es Flugzeuge gab, sind unendlich viele Menschen bei dem Versuch zu fliegen abgestürzt. Wenn niemand sich etwas traut, werden keine Unternehmen gegründet, und unser Sozialsystem kann nicht überleben.“ Koark selbst hat dann sozusagen das eigene Scheitern zum Erfolg gemacht. Sie schrieb einen Bestseller, leitete Workshops, später übernahm sie die Leitung des Podcasts „DigiKompetenz“. Noch immer beeindruckt sie andere mit ihrem offenen, humorvollen Umgang mit dem eigenen Scheitern. Auf ihre Visitenkarte ließ sie „Pleitier“ drucken, bezeichnet sich selbst gern als V.I.P. – very intensively pleite.
Anne Koark hat dazu beigetragen, dass das Scheitern hierzulande etwas weniger stigmatisiert ist. Sie nimmt auch an „FuckUp Nights“ teil, jener in Mexiko ins Leben gerufenen Eventreihe, in der Prominente und nicht so Prominente in launiger Atmosphäre vor Publikum von ihren Misserfolgen berichten. Oft wird sie auch von Unternehmen eingeladen, um über das Scheitern und ihren Umgang damit zu sprechen. Einmal trat Koark vor 1000 Leuten zusammen mit Sebastian Kurz auf, der schon mit 31 Jahren Bundeskanzler von Österreich geworden war – und vier Jahre später nach einem Skandal spektakulär aus dem Amt flog. Vor allem die US-amerikanische Start-up-Szene hat das Scheitern quasi salonfähig gemacht. Frei nach dem Mantra des irischen Nobelpreisträgers Samuel Beckett, „Fail better“, betonen Elon Musk, Jeff Bezos und all die anderen Tech-Milliardäre immer wieder: Zu scheitern war auf ihrem Weg unvermeidlich, und es ist wichtig, daraus zu lernen und wieder aufzustehen. Das trägt Früchte.
Für den Global Entrepreneurship Monitor untersucht das Rationalisierungs- und Innovationszentrum der Deutschen Wirtschaft jedes Jahr zusammen mit der Leibniz-Universität Hannover die Gründungseinstellung in mehr als 50 Ländern. In Deutschland ist die Gründungsbereitschaft in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen, auf eine Quote von derzeit 7,7 Prozent.
So weit, so gut. Wer sich die Daten aber genauer anschaut, sieht auch Zahlen, die zeigen, dass es noch immer die Angst vor dem Scheitern ist, die viele Menschen von der Selbstständigkeit abhält. Seit 2020 ist die Befürchtung, mit einer Unternehmensgründung zu scheitern, tendenziell stärker verbreitet. Während im Jahr 2020 38,5 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung die Angst vor dem Scheitern als Hemmnis angaben waren es im Jahr 2023 45,1 Prozent. Was auch auffällt: Noch immer ist die Gründungsquote unter Frauen mit 5,9 Prozent deutlich geringer als unter Männern (9,3 Prozent).
Wie kann es also gelingen, noch mehr Menschen Mut zu machen? Wichtig ist es zunächst zu verstehen, warum das Scheitern für viele so schambehaftet ist. Die Chicagoer Psychologinnen Lauren Eskreis-Winkler und Ayelet Fishbach haben das in einer Überblicksarbeit im Fachjournal „Perspectives on Psychological Science“ untersucht: Einen Fehler einzugestehen wirkt auf das Ich wie eine Bedrohung. Und das verstärkt nicht nur die Angst vor dem Scheitern, sondern verhindert auch, aus diesem Scheitern zu lernen. Dazu führten die Psychologinnen ein Experiment durch. Grob vereinfacht mussten die Proband*innen auf simple Fragen eine von zwei Antwortmöglichkeiten wählen: Gaben sie in der ersten Runde die falsche Antwort, musste die zweite Möglichkeit die richtige sein. Doch offenbar war die Kränkung bei einem Fehler in Runde eins so groß, dass sehr viele Proband*innen in Runde zwei denselben Fehler machten und an diesem simplen Gedankengang scheiterten.
Wie kann man dieser Spirale entkommen? Der entscheidende Schritt sei, das Bedauern zuzulassen, schreibt der US-amerikanische Sachbuchautor Daniel Pink in seinem Buch „The Power of Regret“ („Die Kraft des Bedauerns“). Die schlaflosen Nächte, wenn wir gescheitert sind, sind tatsächlich zu etwas gut, so Pink. Wer eine Sache bedauere, also mit einem Ergebnis hadere, der überlege aktiv, wie etwas hätte besser laufen können. Wichtig sei aber, das gekränkte Ego auszuklammern. Es brauche emotionale Distanz zum eigenen Scheitern. Am besten lasse sich die gewinnen, wenn man erst einmal schaue, wie andere Menschen Dinge verbockt haben.
Das erklärt wohl auch, warum die „FuckUp Nights“ so erfolgreich sind. Die Fehler der Mitmenschen lassen sich am leichtesten analysieren, man steckt ja selbst nicht drin. Daraus lässt sich prima lernen und das Selbstwertgefühl polieren. Noch besser gelingt dies, wenn man selbst auftritt, denn das verstärkt den Effekt. Und schon werden gescheiterte Existenzen zu Expert*innen: Hört mir zu, ihr könnt von mir lernen!
Darüber reden, sich nicht verstecken – darum geht es. Und das muss nicht vor hundert Leuten geschehen. Oft reicht es schon, Freund*innen und Familie in das analytische Bedauern einzubeziehen, schreibt Pink. Oder man macht es wie Anne Koark: alles aufschreiben. Auch das ist eine wirksame Technik, um sich auf fruchtbare Weise von einem Scheitern zu distanzieren. Schreiben zwingt uns zum Denken, Sortieren und Analysieren. Das verschiebt Reuegefühle aus dem Bereich der Emotionen in den des bewussten Denkens.
Ständige Kommunikation – damit hat es auch Kimberley Breuer geschafft, ihr Unternehmen herumzudrehen. Vielleicht liegt es daran, dass sie selbst Psychologin ist. 2020 gründete sie die Firma Likeminded, in der mentale Gesundheit im Fokus steht. Breuer und ihr Mitgründer wollten Mitarbeiter*innen in Unternehmen den Zugang zu psychologischer Hilfe erleichtern – ihnen ein Beratungsangebot machen, bevor sie sich krankmelden und klinische Hilfe brauchen. Ziemlich schnell stellte sich aber heraus: Nicht genug Menschen waren bereit, aus eigener Tasche dafür zu zahlen.
Aufgeben wollte Breuer nicht. Sie erkannte als Lösung ein ganz anderes Modell: Statt an die Mitarbeiter*innen sollte sich Likeminded an die Unternehmen selbst wenden, also von B2C zu B2B. Auf dem Papier ist der Unterschied nur ein Buchstabe, doch für die Firma bedeutete es letztlich, ein ganz anderes Produkt anzubieten.
„Das war ein extremer Aufwand“, erzählt Breuer. Auch an hängende Gesichter in der Firma erinnert sie sich. „Schließlich sind wir mit einer anderen Idee gestartet, es gab schon das Gefühl, es nicht geschafft zu haben.“ Entscheidend für Breuer war es, selbst voll hinter der Entscheidung zu stehen, die Veränderung konsequent durchzuziehen – und das Team mitzunehmen. Es folgten wöchentliche Meetings, in denen die Performance und die Strategie gemeinsam besprochen wurden. In Hackathons arbeiteten alle zusammen an einer Lösung.
Bereits zwölf Monate nach der Firmengründung hatte Likeminded den Turnaround geschafft. „Ich habe vor allem viel über mich selbst gelernt“, sagt Breuer. „Sachen zu verändern ist gar nicht so schwer. Und wenn eine Idee nicht klappt, gibt es viele andere Wege nach Rom.“ So auch bei Likeminded. Kürzlich fusionierte Breuers Unternehmen mit Nilo Health, ebenfalls ein Start-up aus Berlin, zu „Nilo – A Likeminded Company“. Das neue Unternehmen ist europäischer Marktführer für mentale Gesundheit am Arbeitsplatz.
Text: Constantin Wissmann © Likenilo GmbH; Alexander Schwarzl / OÖN
Dieser Artikel wurde erstmals in der UNTERNEHMERIN 02/24 veröffentlicht.