UNTERNEHMERIN

Der nächste Schritt

Künstliche Intelligenz in den Dienst von Menschen, Unternehmen und Gesellschaft zu stellen ist das Ziel von Nicole Büttner­-Thiel. Die Gründerin und CEO von Merantix Momentum macht auf diesem Weg gerade den nächsten Schritt: KI für den Mittelstand in der Anwendung nutzbar machen.

Es gibt Menschen, die machen Pläne, um sie zu verfolgen. Und es gibt Menschen, die machen Pläne, um sie zu ändern. Zu ihnen gehört Nicole Büttner-Thiel. Die Gründerin und CEO von Merantix Momentum navigiert mit einem Mix aus Unerschrockenheit und Innovationsgeist durch ihr Berufsleben. Und das mit großem Erfolg. Büttner-Thiel zählt europaweit zu den einflussreichsten Frauen auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz; das Weltwirtschaftsforum kürte die Unternehmerin zum „Digital Leader of Europe“, und das Magazin „Capital“ wählte sie bereits zweimal unter die „Top 40 unter 40“. Nicole Büttner-Thiel weiß die Außenwirkung solcher Auszeichnungen zu schätzen, aber sie definiert sich nicht über sie. Ihr Lebensanker sei die Dankbarkeit, sagt die KI-Expertin. „Ich bin für so vieles dankbar, dass ich gar nicht alles aufzählen kann. Meine Familie, mein Team bei Momentum, das Glück, das ich schon im Leben hatte.“

Glück, das ist für Nicole Büttner-Thiel auch ein Synonym für Bauchgefühl, für die richtige Entscheidung im richtigen Moment. Das gilt schon für ihren Berufseinstieg 2008. „Ich hatte mein Studium in St. Gallen abgeschlossen und wollte zur Weltbank gehen, hatte bereits ein Praktikum dort gemacht, wie auch bei den Vereinten Nationen und dem Europäischen Parlament.“ Als das Angebot kommt – sie soll in Ghana für die „Africa Impact Evaluation“-Initiative der Weltbank arbeiten und sich für Bildungsprojekte engagieren –, sagt sie ab. „Mit 23 in Ghana in einer ‚Gated Community‘ zu leben, das fühlte sich nicht richtig an“, beschreibt sie den Grund. Stattdessen geht sie nach Paris und arbeitet für vier Jahre als Analystin und Portfoliomanagerin beim Finanzdienstleister OFI AM. Das klingt bis jetzt alles mehr nach Old Economy als nach Zukunftsvision, doch frisch zurück aus Frankreich läuft ihr ein alter Bekannter über den Weg – Paul Milgrom. Büttner-Thiel kennt den Nobelpreisträger aus ihrer Zeit an der Stanford University, wo sie während ihres Studiums als Visiting Researcher gearbeitet hat.

„Ich war gerade zu meinem Mann nach München gezogen, hatte noch gar keine Vorstellung davon, was ich beruflich machen will“, erinnert sie sich, „da begegnete ich Paul wieder. Seine Firma betreute ein Projekt in Prag, und er fragte mich, ob ich mitmachen wolle.“ Nicole Büttner-Thiel will. Und kommt zum ersten Mal mit künstlicher Intelligenz in Berührung. „Wir haben Auktionssysteme designt. Dabei gibt es spieltheoretische Aspekte, Software- und KI-Anteile. Die Kombination fand ich total spannend.“ Doch nicht nur das Thema, auch der Mix aus Wissenschaftler*innen und Software-Expert*innen beflügelt sie, lässt ihren Wissendurst immer größer werden. Als Büttner-Thiel anfängt zu programmieren, leben sie und ihr Mann bereits in Zürich. Sie wagt sich weiter aus ihrer „Bubble“ heraus, mischt sich unter die Studierenden an der Eidgenössischen Technischen Hochschule.

„Ich habe mir überlegt, wie ich aus dem, was ich gelernt habe, ein Geschäftsmodell machen kann“, sagt die CEO von Merantix Momentum, „ich habe ja Brücken gebaut zwischen Expert*innen, also habe ich eine Expertenplattform aufgebaut, die Postdocs und Professor*innen als Freelance Data Scientists mit Unternehmen zusammenbringt. Personalvermittlung, wenn man so will.“ Allein mit Expert*innen ist den Firmen aber noch nicht geholfen, sie hilft auch dabei, Use Cases und Geschäftsmodelle mitzudenken und ganze Projekte aufzusetzen. „Es wurde rasch deutlich, dass man im Freelancermodell zu der Zeit technisch nicht so tief gehen konnte“, sagt Büttner-Thiel, „oft war noch unklar, welche Anwendungsfälle überhaupt relevant waren, und die Firmen hatten keine geeignete Infrastruktur.“ Sie überlegt, wie sie das Geschäft skalierbarer denken kann, und spricht mit Investor*innen. Auch in Berlin. Dort trifft sie auf Adrian Locher und Rasmus Rothe, die Gründer von Merantix.

Das 2016 gegründete Unternehmen ist ein Company Builder und Inkubator für KI-Start-ups. „Adrian hat damals ganze Arbeit geleistet“, sagt Nicole Büttner-Thiel und lacht. „Eigentlich wollte ich gar nicht nach Berlin, aber er hat insistiert. Er hat gesagt: ‚Hey, wir bauen hier was Cooles, willst du nicht dabei sein?‘“ Das „Bauen“ ist in diesem Fall wörtlich zu nehmen: Locher und Rothe planen einen AI Campus am Nordbahnhof im Brunnenviertel. Ihre Vision ist es, nicht weniger als einen Impulsgeber für künstliche Intelligenz in Europa zu schaffen, mit Platz für mehr als 500 Menschen. Wissenschaftler*innen, Unternehmen, Start-ups, dazu Regierungsbehörden, Investor*innen und Universitäten – eine Community soll entstehen, die das Potenzial zum Innovationstreiber besitzt. Wie hätte Nicole Büttner-Thiel da Nein sagen können? Im August 2019 gründet sie Merantix Momentum unter dem Dach der Merantix-Holding und wird Mitglied der Geschäftsführung der Merantix AG.

Längst ist der AI Campus fertiggestellt und Merantix mit seinen derzeit acht Start-ups dort eingezogen, darunter Momentum. Das Ökosystem des Ortes biete ideale Bedingungen für die Entwicklung von KI-Anwendungen für Unternehmen und damit für den nächsten Schritt der digitalen Transformation, sagt Nicole Büttner-Thiel. „Deutschland steht im internationalen Vergleich sehr gut da, was Forschung, interessante Anwendungsgebiete und Datensätze angeht“, sagt die CEO, „bei der Kommerzialisierung von Ideen dagegen sind wir unglaublich schlecht.“ Um das zu ändern, sucht sie nach tragfähigen Konzepten – und zwar nicht nur für Kund*innen wie Volkswagen und Zalando, sondern auch für den klassischen Mittelstand.

Dort, weiß die Unternehmerin, sind die Vorbehalte gegenüber KI noch besonders groß – Stichwort Arbeitsplatzverlust. „Wir sollten KI schätzen, aber nicht überschätzen“, sagt Büttner-Thiel, „KI ist bei ganz speziellen Aufgaben richtig gut, zum Beispiel bei der medizinischen Diagnostik, etwa der Krebsbefundung. Menschen werden 15 Jahre lang ausgebildet, um die Diagnostik zu erlernen, KI braucht nur wenige Monate Training. Aber die Ärztin, die mit Empathie das Gespräch führt und Therapieansätze individuell abstimmt, kann sie in ihrer Gesamtheit nicht ersetzen, sondern lediglich bei Teilaspekten unterstützen.“ Oft sei es so, dass KI Dinge schnell lerne, die Menschen schwerfielen, und Probleme habe in Situationen, bei denen wir uns gar keine Gedanken machen, zum Beispiel wenn es darum geht, ein Verkehrsschild zu erkennen, das bekritzelt ist. Insofern könne von KI auch keine Bedrohung ausgehen, wie sie in Horrorfilmen immer wieder vermittelt werde. „KI lernt schnell mit Riesendatensätzen, das ist ihr großer Benefit. Aber ihr fehlt menschliche Empathie, die Fähigkeit, vollkommen ‚out of the box‘ zu denken.“

Trotzdem ist sie dagegen, der Entwicklung völlig freien Lauf zu lassen. Ganz wichtig beim Forschen nach neuen Anwendungsmöglichkeiten sei ihr der ethische Gedanke, sagt die Managerin. „Es braucht einen Ethikkodex für KI“, so Büttner-Thiel, „auch weil KI das Potenzial besitzt, mit wenigen Ressourcen, also etwa in sehr kleinen Teams, eine hohe Skalierung zu erreichen.“ Facebook – heute Meta – sei ein gutes Beispiel dafür, wie es nicht laufen sollte: „Eine kleine Gruppe baut ein Produkt, das drei Milliarden Menschen nutzen. Das ist erst mal nicht verwerflich, aber es stellt sich die Frage, welche Werte sie vertreten, welche blinden Flecken sie womöglich haben. Wenn wir das nicht hinterfragen, kann es schnell zu Asymmetrien kommen, die dann in einer gesellschaftlichen Spaltung enden.“ In Deutschland müssten KI-Produkte aus dem gesellschaftlichen Grundverständnis heraus eine viel höhere ethische Hürde nehmen als zum Beispiel in den USA oder in China. Das erkläre auch, warum Entwicklungen hier länger bis zur Marktreife brauchten.

Nicole Büttner-Thiel scheint ihren Platz gefunden zu haben. Eigentlich müsste sie jetzt nur noch weitermachen, immer weiter. Oder etwa nicht? Ihre Augen blitzen belustigt auf. „Vielleicht studiere ich ja noch mal“, sagt eine der einflussreichsten Frauen der KI-Szene. Klingt nach einem Plan. 

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ZUR PERSON

NICOLE BÜTTNER-THIEL ist Gründerin und CEO von Merantix Momentum, einer auf künstliche Intelligenz spezialisierten IT-Firma mit Sitz in Berlin. Sie brachte das Unternehmen im August 2019 unter dem Dach der Merantix AG an den Start, in deren Geschäftsführung sie ebenfalls tätig ist. Das KI-Venture-Studio Merantix inkubiert KI-Start-ups und wurde mehrfach, unter anderem von „Forbes“ und „Bilanz“, in die Top Ten der KI-Start-ups gewählt. Das Weltwirtschaftsforum kürte die Unternehmerin zum „Digital Leader of Europe“, und „Capital“ wählte Nicole Büttner-Thiel bereits zweimal unter die „Top 40 unter 40“. Sie studierte in St. Gallen und Stockholm und arbeitete als Visiting Researcher an der Stanford University in Kalifornien. Nicole Büttner-Thiel lebt mit ihrer Familie in Zürich und Berlin.

Text: Christian Bracht
Fotos: Meike Kenn

Dieser Text wurde erstmals in der UNTERNEHMERIN (2022/2) veröffentlicht.