UNTERNEHMERIN

„Die Zeit drängt“

Achillesferse Schiene? Ein Interview mit der Vorstandsvorsitzenden der DB Cargo, Dr. Sigrid Nikutta, über die Rolle des Güterverkehrs als Weg aus der Klimakrise. Nikutta ist seit dem 1. Januar 2020 Vorstand Güterverkehr der Deutschen Bahn AG und gleichzeitig Vorstandsvorsitzende der DB Cargo AG. Die DB Cargo ist als Europas größte Güterbahn in 17 Ländern aktiv und bildet mit ihren 30 000 Mitarbeiter*innen das Rückgrat der europäischen Wirtschaft.

Frau Dr. Nikutta, seit Januar 2020 verantworten Sie im Vorstand der Konzernholding DB AG den Bereich Güterverkehr und sind zugleich Vorstandsvorsitzende der entsprechenden Güterverkehrstochter DB Cargo. Die Bahn als umweltschonendes Verkehrsmittel ist in aller Munde, wenn es um eine erfolgreiche Mobilitätswende geht. Welche Bedeutung bei der Erreichung der Pariser Klimaziele kommt der Verlagerung von Transporten auf die Schiene zu? 
Dem Güterverkehr kommt bei der Erreichung der Klimaziele eine wichtige Rolle zu. In Zeiten globaler Lieferketten ist es entscheidend, wie Güter und Waren durch Europa und die Welt transportiert werden. Wir haben jetzt das historische Zeitfenster, um endlich umweltfreundlichen Transport zu realisieren, und damit wird der Schienengüterverkehr eine Renaissance erleben. Die Zeit drängt. Wir sind die letzte Generation, die den Klimawandel und seine Folgen noch aufhalten kann. Darum gibt es von der EU den Green Deal. Um die Klimaziele der EU zu schaffen, muss Deutschland bis ins Jahr 2030 seinen CO₂-Ausstoß im Verkehrssektor von derzeit jährlich 164 Millionen Tonnen CO₂ um fast 50 Prozent reduzieren. Wir brauchen jetzt die Verkehrswende im Güterverkehr. Wir haben bereits eine Lösung – der Weg aus der Klimakrise führt über die Schiene. Ein Güterzug stößt gegenüber dem Straßentransport 80 bis 100 Prozent weniger CO₂ aus. Und er ersetzt bis zu 52 Lastwagen auf der Straße. Wir bieten allen unseren Kund*innen klimaneutrale Lieferketten – schon heute und auch ohne eigenen Gleisanschluss. 

In Deutschland werden aktuell nur knapp 20 Prozent der Güter auf der Schiene transportiert. Dabei stellt der Ausbau der Infra­struktur, der lange auf das Straßennetz ausgerichtet war, die Achillesferse dar. Wie gehen Sie diese Herausforderung an, und welche Investitionen werden benötigt? 
Nur knapp 20 Prozent der Güter werden auf der umweltfreundlichen Schiene transportiert. Eigentlich unglaublich und doch aufgrund der Entwicklungen der letzten Jahrzehnte Realität. Wir alle können dankbar sein, dass die Politik jetzt massiv umsteuert. Wahr ist allerdings auch, dass Infrastrukturausbau zeitliche Vorläufe benötigt. Gerade haben wir die Situation, dass wir die Schiene modernisieren, ertüchtigen und ausbauen und gleichzeitig mehr Güter und Personen auf die Schiene bringen. Eine echte Herausforderung, denn die Kapazität auf der Schiene wird letztendlich determinieren, wie viel wir auf der umweltfreundlichen Schiene fahren können.  
Ich mache das gern an einem Beispiel klar: Umweltfreundlich heißt, ein Container wird aus einem Unternehmen per Lkw (gern elektrisch) abgeholt und fährt wenige Kilometer bis zum nächsten Umschlagterminal auf der Straße. Dort wird der Container auf einen Zug verladen und fährt dann Hunderte von Kilometern im Zug mit 51 anderen Containern auf der Schiene. Am Ankunftsort wird der Container für die letzten Meter wieder auf einen Lkw geladen. In der Fachwelt heißt das „kombinierter Verkehr“. Und dafür werden Terminals gebraucht. Aber auch Gleisanschlüsse in Unternehmen und Industrie gebieten sind wichtig, genauso wie mehr Gleise, mehr Überholmöglichkeiten, ausgebaute Strecken und natürlich mehr elektrifizierte Strecken sowie am Ende die digitale Schiene.  
Im Güterverkehr selbst tut sich hier auch eine Menge. Die Deutsche Bahn hat für die EU im Auftrag des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr den ersten digitalen Güterzug auf die Reise durch Europa geschickt. Er ist mit einer digitalen automatischen Kupplung ausgestattet. Das spart uns unglaublich viel Zeit beim Kuppeln und Rangieren von Zügen, die damit länger und schneller werden können. Außerdem können wir erstmals Güterwagen während der Fahrt mit Strom und digitalem Datenaustausch versehen. Hört sich gut an, ist es auch. Die Herausforderung dabei: In Europa gibt es rund 500 000 Güterwagen, die alle und möglichst gleichzeitig mit der neuen Technik ausgerüstet werden müssen, was eine Milliardeninvestition erfordern wird. 

Wie wollen Sie dabei für die mittelständisch organisierte Wirt­schaft in Deutschland eine flächendeckende Anbindung des Güter­verkehrs an die Schiene sicherstellen – Stichwort „letzte Meile“? 
DB Cargo ist der europaweite Bahnlogistiker mit der Schiene im Herzen! Das ist unser Motto und unsere Realität. Wir sorgen dafür, dass die Waren von A nach B kommen – wir holen ab und liefern aus, auch ohne eigenen Gleisanschluss bei den Kund*innen. Aber wir haben die umweltfreundliche Schiene als Kernstück. Dafür greifen wir auf das gigantische grüne Umweltnetzwerk der Schiene in Deutschland zurück. Und wir haben mit unserem Einzelwagennetz wirklich die Möglichkeit, einzelne Güterwagen oder Container zu transportieren, und sichern so CO₂-arme Transportketten auch für den Mittelstand. Und das Ganze ist von der Bestellung und vom Handling so einfach wie Onlineshopping.  

Ein Schlüssel, um mehr Kapazität im Schienennetz zu schaffen, ist die Digitalisierung. Welche Aufgaben liegen in diesem Be­reich vor Ihnen? 
Die Digitalisierung des gesamten Systems Schiene unter Beibehaltung des hohen Sicherheits- und Resilienzniveaus ist sicherlich die größte und wichtigste Aufgabe für die nächste Dekade. Digitale Fahrzeuge, die mit der Infrastruktur kommunizieren, die Abstände zwischen Zügen berechnen und fortlaufend, unter Beachtung der Umgebungsbedingungen, aktualisieren und optimieren, werden die Kapazität auf der Schiene noch mal deutlich erhöhen können. Und es geht nun im Güterverkehr darum, neben Kupplung, Zugbildung, Rangierbetrieb und Umladebetrieb auch die Kommunikation mit den Systemen unserer Kund*innen zu digitalisieren. 

Die Neuausrichtung der DB Cargo ist ohnehin eine Mammut­aufgabe. Nun folgten direkt nach Ihrem Jobantritt die Corona­krise und dann dieses Jahr der Krieg in der Ukraine. Wie sind die DB Cargo und ihre 30 000 Mitarbeiter*innen mit diesen für keinen vorherzusehenden Krisen umgegangen? 
Der Güterverkehr der Bahn, DB Cargo, schreibt seit Jahrzehnten Verluste. Hier wurden die Weichen vor langer Zeit – auch politisch – so gestellt, dass immer unklar war, ob man dieses System eigentlich noch braucht oder ob der Lkw nicht vielleicht die alleinige Zukunft hat. Heute sind wir klüger und wissen um die Funktion der Schiene auch für den Gütertransport. Aber entsprechend schwierig ist meine Aufgabe: Ein Unternehmen, welches nur Schrumpfen und Sanieren gewohnt ist, auf einen optimistischen und natürlich langfristig erfolgreichen Kurs zu bringen, das ist Herausforderung und Chance zugleich. 
30 000 erfahrene und motivierte Mitarbeiter*innen in 18 Ländern sind eine unglaubliche Kraft. Wie kraftvoll wir agieren, zeigen wir auch in den aktuellen Krisen. Während in der Coronazeit kilometerlange Staus an den Grenzen waren, fuhren unsere Güterzüge reibungslos und vollkommen stabil über alle Grenzen. Und wir haben uns sofort auf die neue Situation eingestellt und Nudeln, Hygieneprodukte, Desinfektionsmittel transportiert – bis hin zu Zügen voll mit Masken aus China.  
Als der Beginn des Kriegs gegen die Ukraine uns alle erschütterte, überlegten wir sofort: Was ist zu tun? Binnen weniger Tage haben wir eine Güterverkehrsverbindung mitten in die Ukraine hinein geschaffen – unsere Schienenbrücke ging aufs Gleis. Seitdem gehen jeden Abend Container mit Hilfsgütern in unseren Shuttlezügen von Berlin in die Ukraine. Und es ist effektiv: Bis zu 3000 Tonnen Lebensmittel, Trinkwasser, Medikamente und Sanitärartikel kann ein einziger Güterzug direkt in die Krisengebiete bringen. Aktuell drehen wir diese Schienenbrücke einfach um und sorgen dafür, dass das Getreide, auf das die Welt dringend wartet, aus der Ukraine per Zug exportiert werden kann. Kurz und gut: Eindrucksvoll belegen wir gerade, dass Krisen auch Chancen darstellen. Und ich nutze die Chance, um zu beweisen, wie wichtig die Schiene ist!  

Seit 187 Jahren gibt es mit Ihnen erstmalig eine Frau als Chefin der größten Güterbahn Europas. Frauen im Mobilitätsbereich und allgemein in MINT­Berufen sind aber immer noch deutlich unterrepräsentiert. Die Gründe dafür sind bekannt. Wir haben kein Erkenntnis­, sondern ein Umsetzungsproblem. Was müssen aus Ihrer Sicht Wirtschaft, Politik und Gesellschaft tun, damit wir endlich Fortschritte machen? 
Bei meinem ersten Job wurde mir noch gesagt: Sie bekommen den Job, obwohl Sie eine Frau sind. Das ist zwar schon etwas her, aber viele Vorurteile sind – oft auch unbewusst – immer noch in den Köpfen. Mit der Quote haben wir in Deutschland einen richtigen Schritt gemacht. Denn wenn es in der Vergangenheit nur auf die Leistung angekommen wäre, dann müssten wir in den meisten Funktionen mindestens 50 Prozent Frauen sehen. Die Quote wird uns dabei helfen, eine Selbstverständlichkeit der Chancengerechtigkeit zu entwickeln. Eine Chancengerechtigkeit, die unabhängig ist vom Geschlecht, von der Herkunft oder der Hautfarbe. 
Ich betone an der Stelle oft, dass auch unserer Gesellschaft eine wichtige Rolle zukommt. Denn immer noch ist in Deutschland ein sehr traditionelles Familienbild verankert. Deshalb bin ich auch gern Vorbild dafür, dass erfolgreiche Karriere und Familienleben mit vielen Kindern sehr wohl vereinbar sind – für Männer wie für Frauen!  

Frau Nikutta, zum Abschluss eine persönliche Frage: Welches Fortbewegungsmittel nutzen Sie am liebsten? 
In Berlin den öffentlichen Nahverkehr! Ich fühle mich sehr wohl in der S-Bahn, der U-Bahn, der Straßenbahn und den Bussen – habe natürlich aber auch ein E-Bike! Für längere Strecken nutze ich fast ausnahmslos den Zug – für mobiles Arbeiten oder entspanntes Schlafen, je nach Tages- oder Nachtzeit. 

ZUR PERSON 
DR. SIGRID NIKUTTA ist seit dem 1. Januar 2020 Vorstand Güterverkehr der Deutschen Bahn AG und gleichzeitig Vorstandsvorsitzende der DB Cargo AG. Die DB Cargo ist als Europas größte Güterbahn in 17 Ländern aktiv und bildet mit ihren 30 000 Mitarbeiter*innen das Rückgrat der europäischen Wirtschaft. Zuvor war Nikutta fast zehn Jahre lang Vorstandsvorsitzende der Berliner Verkehrsbetriebe und führte das Unternehmen erstmals in die schwarzen Zahlen. Von 1996 bis 2010 war sie bei der DB AG in verschiedenen Leitungs-funktionen tätig. Sigrid Nikutta studierte Psychologie und promovierte 2009 an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Weiterhin ist sie stellvertretende Vorsitzende des Senats des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR), im Präsidium des Verbands der Berliner Kaufleute und Industriellen (VBKI) sowie Vorsitzende des Kuratoriums des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). 

Interview: Evelyne de Gruyter 
Foto: Deutsche Bahn AG 

Dieses Interview wurde erstmals in der UNTERNEHMERIN (2022/1) veröffentlicht.