UNTERNEHMERIN

Innovation braucht mehr als KI

Produktivität und Effizienz sind essenzielle Marker für den unternehmerischen Erfolg. Um innovativ zu sein und zu bleiben, setzen immer mehr Unternehmer*innen KI-Anwendungen ein. Doch das allein reicht nicht.

Alex Rinke war einmal zu Gast bei einer Party. Das georderte Essen kam viel zu spät. Während alle freudlos um die labbrige und kalte Pizza saßen, wurde er gefragt, was er und seine Firma Celonis eigentlich machen. Rinke, ein hagerer Typ, damals Anfang zwanzig, musste lachen. Dann antwortete er, Celonis sorge dafür, dass genau so etwas in einem Unternehmen nicht passiere. Celonis optimiere die Prozesse. Heute muss Rinke wahrscheinlich nicht mehr oft erklären, was er tut. Sein Unternehmen, das er mit zwei anderen gegründet hat und dessen CEO der Mittdreißiger ist, gilt als das wertvollste Start-up in Deutschland. Mit 13 Milliarden Dollar wurde es bewertet.

Der hohe Wert lässt sich damit erklären, dass Rinke und seine Mitarbeiter*innen Pionierarbeit darin leisten, künstliche Intelligenz (KI) in Unternehmen zu bringen. Process-Mining nennen sie die gründliche Analyse und Optimierung von Geschäftsprozessen. Damit sollen Firmen ihre Abläufe beschleunigen und bessere Entscheidungen treffen können, die datengestützt sind.

KI ist in aller Munde und spielt natürlich auch in den Unternehmen eine große Rolle. Expert*innen schwärmen von den grenzenlosen Möglichkeiten, die KI bei der digitalen Transformation biete. Da sind die herkömmlichen Arbeiten im Betrieb. Aber KI-Programme können nicht nur Anleitungen für den Bau von Autos erstellen. Sie fassen lange Dokumente zusammen und gießen sie in Präsentationen, transkribieren verpasste Meetings, basteln aus Firmendaten Diagramme und Powerpoints – was bisher nur die besten menschlichen Mitarbeiter*innen leisten konnten, macht die KI nun auch, nur ohne Murren, Krankheit, Urlaub oder Mittagspause. Und in Sekunden. Selbst in einem familienbetriebenen Handwerksbetrieb kann ein KI-basierter Chatbot Teile der Buchhaltung, das Schreiben der Angebote oder die Kommunikation übernehmen.

Gleichzeitig können Unternehmen mithilfe von KI ihre Geschäfte effizienter abwickeln. Das trifft etwa auf Banken zu, die KI in den Bereichen Risikomanagement, der Identifizierung von Geldwäsche und im Wertpapierhandel einsetzen. Auch bei Versicherungen gehört KI bereits zum Alltag – besonders in der Kundenbetreuung und in der Schadensregulierung. Die Deutsche Industrie- und Handelskammer fast es so zusammen: „Ob maschinelle Übersetzung, vorausschauende Wartung oder personalisiertes Marketing – der Anwendungsbereich von KI erstreckt sich über nahezu alle Wirtschaftszweige und Geschäftsbereiche.“ Laut einer Umfrage setzten 2023 branchenübergreifend rund 14 Prozent der mehr als 1000 befragten Unternehmen KI ein. Weitere 23 Prozent planen demnach die Einführung innerhalb der kommenden drei Jahre.

KI kommt auch dort zum Zug, wo man es nicht unbedingt erwartet. Die Karl Mayer Gruppe aus Obertshausen in der Nähe von Offenbach, ein Weltmarktführer im Textilmaschinenbau, gehört in der Branche zu den ganz wenigen, die nicht in Asien angesiedelt sind. 1937 als Familienunternehmen gegründet, beschäftigt Karl Mayer heute weltweit mehr als 3300 Mitarbeiter*innen an Standorten unter anderem in Deutschland, USA und Indien.

Marktführer in dieser Branche bleibt man nicht, wenn man nicht flexibel ist. Extreme Marktschwankungen sind Alltag im Textilmaschinenbau. Kundenwünsche ändern sich ständig und sehr kurzfristig. Deswegen muss die Produktpalette laufend über Nacht angepasst werden, die Produkte müssen schnell zum Kunden kommen. Das macht die weltweite Planung der Materialversorgung und -bereitstellung aufwendig und komplex.

Um dieser Herausforderung gerecht zu werden, setzt das Unternehmen schon seit einiger Zeit auf digitale Lösungen und KI. 2017 hat es dafür extra eine Tochterfirma gegründet: Die Digital Factory beschäftigt ein Team aus Software- und Technologieexpert*innen. Sie sollen abseits des Hauptsitzes, in der Start-up-Atmosphäre in Frankfurt am Main, kreativ nach Wegen suchen, wie die große Mutterfirma effizienter wird. Geschäftsführerin der Digital Factory ist Antonia Gottschalk. Die junge Managerin holte Celonis mit ins Boot. Als eine der ersten Anwendungsmöglichkeiten von KI machten sie gemeinsam die Produktionsstandorte und Ersatzteillager von Karl Mayer aus. Sie müssen kontinuierlich mit Material versorgt werden. Zuvor leistete das ein sogenanntes Bestellpunktverfahren. Dafür mussten menschliche Disponent*innen in regelmäßigen Abständen die Bestände in den Lagern kontrollieren. Sie passten Meldebestand, Sicherheitsbestand und Bestelllosgrößen der verschiedenen Werke an. Ein extrem aufwendiges Verfahren, das den immer stärker wachsenden Marktschwankungen nicht mehr gerecht wurde.

Mit Celonis entwickelte die Digital Factory KI-Assistenzsysteme, welche die Ersatzteillager bei Karl Mayer kontinuierlich überwachen und anhand der Materialbewegungen Vorschläge machen, inwieweit die Bestände angepasst werden müssen. Das Assistenzsystem gibt diese Empfehlung an einzelne Disponent*innen weiter, die dann die Vorschläge prüfen, gegebenenfalls anpassen und umsetzen.

Sobald diese erste Stufe erfolgreich eingesetzt worden war, ging es an die Umsetzung der zweiten. Die KI hatte gelernt, worauf es ankam, und war nun in der Lage, selbstständig Bestellprozesse anzustoßen und auszuführen. Die Mitarbeiter*innen sollten nur noch stichpunktartig kontrollieren.

In der Evaluierung wurde das Projekt als großer Erfolg bewertet. Vor allem von den Disponent*innen. Sie waren bewusst von Anfang an in das Projekt eingebunden. Befragungen hatten ergeben, dass sie dem Themenfeld KI gegenüber offen eingestellt waren. Sie nahmen die KI als willkommene Unterstützung für zeitintensive und monotone Tätigkeiten an, damit sie sich in Zukunft auf andere, geistig herausforderndere Aufgaben konzentrieren können.

Laut Claudia Hilker ist das genau der richtige Ansatz, um die Mitarbeiter*innen mit künstlicher Intelligenz vertraut zu machen. Denn einigen ist das alles noch ein bisschen unheimlich. Hilker möchte ihnen die Angst nehmen. Sie berät Unternehmen in Sachen KI und ist Social-Media-Lehrbeauftragte an mehreren Hochschulen. Zwar stünden die meisten den Veränderungen offen gegenüber, sagt sie. Doch es existierten auch „Abwehrreflexe, oft aus Unwissenheit oder Angst vor Veränderung“. Viele Führungskräfte und Mitarbeiter*innen befürchten, dass KI zu Jobverlusten führen könnte oder zu komplex in der Implementierung sei.

Umso wichtiger sei es deshalb, alle Beteiligten frühzeitig in den KI-Transformationsprozess einzubeziehen und ihnen die Vorteile und den Zusatznutzen von KI aufzuzeigen. „Es ist entscheidend, dass KI nicht als Ersatz, sondern als Unterstützung für menschliche Mitarbeiter*innen gesehen wird“, sagt Hilker. Das gehe leichter, wenn in einem Unternehmen ohnehin eine offene, fehlertolerante Kultur herrsche, in der Kreativität und Experimentierfreudigkeit gedeihen.

Ähnlich sieht es Anabel Ternès. Die Zukunftsforscherin und KI-Unternehmerin ist so gefragt, dass sie ein Management hat. Ihre Erfahrung: Gerade im mittleren Management bei Familienunternehmen tun sich viele mit dem Thema noch schwer. „Die sagen dann, och nö, auch das noch.“ Allerdings sei eine gewisse Skepsis gar nicht so falsch. „Oft werden Tools einfach eingekauft, die aber für das Unternehmen nicht unbedingt geeignet sind.“ Deswegen plädiert Ternès dafür, dass den Mitarbeiter*innen in Schulungen zumindest die Grundlagen etwa vom Coding und Prompting vermittelt werden.

Anstatt Tools und menschliches Wissen einfach einzukaufen, sei es cleverer, einen ganzheitlichen Ansatz zu finden, sagt Anabel Ternès. Dazu gehöre zunächst, klare Geschäftsziele zu definieren, die durch KI-Technologien unterstützt werden sollen. Darauf aufbauend sollten die Daten, mit denen die KI-Programme gefüttert werden, sorgfältig organisiert werden. „KI kann nur so gut sein wie ihre grundlegenden Daten und die Menschen dahinter.“

Entscheidend sei auch die enge Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Abteilungen und den KI-Expert*innen im Unternehmen. Gemeinsam könnten sie konkrete Anwendungsfälle identifizieren, in denen KI einen echten Nutzen bieten könne. Bevor man groß investiere, sollte man zunächst mit  kleineren Pilotprojekten starten, einer Art Lean Management – und die große Struktur mit Verzierung planen. So könne man testen und validieren, wie man die KI am besten einbindet.

Auch Pizzalieferant*innen arbeiten mittlerweile mit KI. Trotzdem kommt die Pizza auch heute noch manchmal zu spät. Wenn der Reifen der Fahrerin platzt oder ein Koch unter Stress das falsche Gericht in die Packung gibt, kann künstliche Intelligenz auch nicht helfen. Auf die Menschen wird es also weiterhin ankommen.

Text: Constantin Wissmann
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Dieser Beitrag wurde erstmals in der UNTERNEHMERIN 01/24 veröffentlicht.