UNTERNEHMERIN

Wenn der Kühlschrank einkaufen geht

Wir leben in einer digitalen Gesellschaft. Was vor 20 Jahren noch Utopie war, ist heute selbstverständlich. Doch wie viel Gestaltungsfreiraum haben wir wirklich? Eine Bestandsaufnahme mit Blick in die Zukunft.

Die Digitalisierung hat unser Leben und unseren Alltag in nahezu allen Bereichen erleichtert. Keine Branche, kein Haushalt, kein Mensch kommt ohne die moderne Technologie aus. Navigationsgeräte lotsen uns durch den Großstadtdschungel und Suchmaschinen durch das Tohuwabohu an Informationen des Internets. Diabetiker*innen kontrollieren ihren Blutzuckerspiegel mithilfe von Apps. Unternehmensprozesse werden automatisiert. Einschlafhilfen für Babys entlasten gestresste Eltern. Sprachassistenten und Roboter haben wichtige Teile der Hausarbeit übernommen. Sämtliche Buchungen im Internet tätigen wir über unsere Smartphones, Tablets oder Rechner.

Onlinebanking, Carsharing-Modelle, Tickets aller Art, Arzttermine: alles schnell auf dem mobilen Device erledigt. Wir finden Ladestationen für unser Elektroauto per Handy, vernetzen unsere Haushaltsgeräte mit ihm, und in manchen Haushalten kauft schon der Kühlschrank ein. Kurz: Es ist nicht weniger als eine Disruption, die vor gerade einmal 20 Jahren begonnen hat.

Rund 12 000 Jahre ist es her, dass die neolithische Revolution den ersten tiefgreifenden Einschnitt in die Menschheitsgeschichte einleitete: Die Jäger*innen und Sammler*innen wurden sesshaft und begannen mit dem Ackerbau. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beschleunigte in Europa die Entwicklung von Maschinen die Produktivität und löste einen weiteren Schub in unserem Dasein aus: die industrielle Revolution.

Doch der Tornado, der seit Beginn dieses Jahrtausends über die Menschheit hinwegfegt, lässt diese beiden Meilensteine beinahe verblassen. Die digitale Revolution hat unser Leben in Lichtgeschwindigkeit völlig verändert. Heute fällt es schwer, sich das Leben vor 20 Jahren überhaupt noch vorzustellen.

Verkehrte Welt? Die Jungen weisen den Alten die Richtung

PCs, Laptops, Smartphones und Apps haben unseren Alltag erobert. Fast niemand kommt noch ohne sie aus. Und – auch das ist neu – die Entwicklung wird vor allem von den jungen Menschen angetrieben. „Das hat zu einer Umkehr der Kompetenzverhältnisse geführt“, sagt Johannes Weyer, Seniorprofessor für Nachhaltige Mobilität an der Technischen Universität Dortmund. Nicht mehr die Alten mit ihrer Lebenserfahrung zeigen den Jungen, wo es langgeht, sondern junge Menschen, die mit der neuen Technologie aufgewachsen sind, treiben die Entwicklung an. Laut Statista sind mehr als die Hälfte der Gründer*innen von Start-ups unter 34 Jahre alt. Sie geben die Geschwindigkeit vor, sind kreativ und mit der Technologie aufgewachsen. Sie verstehen die Prozesse in einer Tiefe, die vielen Älteren auch dann verborgen bleibt, wenn sie sich intensiv damit beschäftigen.

Für fast alle Sektoren ergeben sich große Chancen. Beispiel Gesundheitsversorgung: Nicht nur können Kommunikation und Verwaltungsabläufe dank Digitalisierung schneller und effizienter gestaltet werden. Auch wichtige Daten stehen dank der elektronischen Patient*innenakte immer dann und dort zur Verfügung, wo sie benötigt werden. Das ist die Voraussetzung für eine gute und wirksame Behandlung. Zudem verbessert die systematische Auswertung medizinischer Daten die Früherkennung von Krankheiten. Das ermöglicht individuell ausgerichtete Therapien und steigert die Aussichten auf Heilung.

Komplexe Systeme steuern die Energie, die Daten und die Mobilität

Bei der Bekämpfung des Klimawandels ist die Digitalisierung eine enorme Hilfe. Das Ziel „Net Zero“, die Nettonull, ein Gleichgewicht zwischen verursachten und vermiedenen Emissionen, wird ohne die Digitalisierung nicht zu erreichen sein. Unternehmen wie SAP arbeiten daran, die Menge des CO2-Ausstoßes für Unternehmen messbar zu machen. Mit intelligenten Stromnetzen lässt sich die Energieeffizienz steigern; Stromzähler regulieren und reduzieren den privaten Energieverbrauch. „Die Technologie wird es uns ermöglichen, komplexe Systeme zu steuern und nachhaltiger zu machen. Die Energiewirtschaft beschäftigt sich intensiv damit, wie mithilfe smarter Geräte der Netzbetrieb der Zukunft gemanagt werden kann“, sagt Weyer. Das Ziel seien schnelle, effiziente, automatisierte und vor allem nachhaltige Prozesse.

Und auch in der Mobilität erwarten zahlreiche Stakeholder Quantensprünge. „Wir werden uns mit Elektroautos, Sharing-Fahrzeugen und autonom fahrenden Wagen schneller, sicherer und umweltschonender bewegen“, sagt Weyer. Unsere Häuser, unsere Städte und die Energieproduktion werden intelligent, alles wird miteinander vernetzt. In vielen Bereichen, so Weyer, seien wir schon ein gutes Stück vorangekommen. Soeben hat die Bundesregierung den „Masterplan Ladeinfrastruktur II“ verabschiedet, der die Voraussetzungen für die Entwicklung der Elektromobilität hin zum breiten Massenmarkt schaffen soll. „Das Auto“, prophezeit Weyer, „wird als Statussymbol ausgedient haben.“ Die Zahl der E-Bikes hat schon in der Corona-pandemie zugenommen. 2020 und 2021 stieg ihr Absatz dramatisch an: um mehr als 50 Prozent gegenüber 2019.

Die Digitalisierung fordert ihren Preis

Weyer wirkt im Projekt Neue Mobilität Paderborn (NeMo) mit, an dem mehr als 70 nationale Partner beteiligt sind. NeMo betrachtet Mobilitätskonzepte, Fahrzeugsysteme, Energieerzeugung und Digitalisierung ganzheitlich. Im Zentrum stehen die Entwicklung und Umsetzung eines schwarmartigen Mobilitätssystems, bei dem an zentralen Knotenpunkten Ladestationen als Schnittstellen für Mobilität und Energie aufgebaut werden.

Die Fahrten erfolgen individuell nach Bedarf und verlaufen ohne Unterbrechungen sowie ohne Wechsel des Fahrzeugs vom Start- zum Zielpunkt. „Dies ermöglicht in Zukunft eine umweltfreundliche, verkehrsschonende und individuell gesteuerte Mobilität“, so Weyer.

Bei allen Chancen, die die digitale Transformation in unser Leben gebracht hat – sie fordert einen Preis. Daten sind die wertvollste Währung einer digital getriebenen Wirtschaft. Wir hinterlassen detaillierte Informationen über unser Leben bei jeder Transaktion im Netz. Wir haben keine andere Wahl. Niemand kommt mehr ohne Suchmaschine, Smartphone oder Onlinebanking aus. „Unsere Privatsphäre schrumpft zusammen. Wir geben bereitwillig Informationen preis, die von Unternehmen gesammelt, genutzt und weitergegeben werden“, sagt Jeanette Hofmann, Leiterin der Forschungs-gruppe Politik der Digitalisierung am Wissenschaftszentrum Berlin. „Diese Informationen konzentrieren sich auf einige wenige Unternehmen wie Google, Amazon, Meta. Die wissen inzwischen mehr über uns als die Staaten, in denen wir leben“, sagt sie.

Was genau mit diesen privaten Daten geschieht, ist nur den Unternehmen selbst bekannt. „Allerdings“, sagt Hofmann, „bemüht sich die europäische Politik sehr, die Verbraucher*innendaten zu schützen.“ In diesem Jahr sind mehrere Gesetze zur Regulierung des Datenverkehrs auf den Weg gebracht worden. Diese Regeln, so Hofmann, hätten auch Ausstrahlung auf andere Staaten wie die USA.

Dem medialen Druck halten viele nicht stand – Digitalisierungsstrategien

Schwerer noch als die Diskussionen um Datensicherheit wiegt möglicherweise der Informationsoverkill, dem wir ausgesetzt sind. Mehr als 62 Millionen Deutsche haben ein Smartphone, Tendenz steigend. Die Möglichkeit, alles von zu Hause aus erledigen zu können, spart uns nicht nur Zeit. Sie setzt uns auch ungeheurem Stress aus: Die eingesparte Zeit versuchen wir mit anderen Aktivitäten zu füllen. Unser Leben wird dichter bei dem Versuch, immer mehr hineinzupacken. Wir sind ständig online. Immer erreichbar. Keine Nachricht entgeht uns, und wir erwarten, dass auch alle anderen stets erreichbar sind. Digital Detox, der zeitweise Verzicht auf digitale Geräte, gilt als eines der letzten Abenteuer unserer Zeit.

Instagram, TikTok, Facebook: Die sozialen Medien dehnen den Raum ins Unendliche aus. Nicht nur die Digital Natives sind im permanenten Stand-by-Modus. Wir füllen unsere Pausen mit dem Checken von E-Mails, dem Anschauen von Katzenvideos oder der Faktenprüfung bei Wikipedia. Das Netz ist das Fernsehen, die Enzyklopädie, die Zeitung von heute. Zum Telefonieren nutzen wir das Handy kaum noch.

Unter diesem medialen Dauerfeuer brechen viele Menschen zusammen. Eine Grundlagenstudie des VOCER Instituts für Digitale Resilienz hat er-geben, dass der hohe Medienkonsum ernste Effekte auf die Psyche hat: Schlaflosigkeit, Unwohlsein, Nervosität, depressive Verstimmungen. Es gibt sogar Apps, die andere Apps zwischenzeitlich blockieren, um deren Nutzung zu reduzieren.

Jede*r bleibt selbst verantwortlich für den Umgang mit Medien

Auf besondere Weise hat die Digitalisierung das Leben älterer Menschen geprägt. Sie können der rasanten Entwicklung nicht immer folgen und fühlen sich beiseitegedrängt. Joya Silva hilft älteren Menschen dabei, den Anschluss wiederzufinden oder ihn gar nicht erst zu verlieren. Die 31-jährige Berlinerin hat aus ihrem privaten Engagement ein Business gemacht – den Silber Salon. Nach einem Gespräch mit ihrer 90-jährigen Nachbarin während des ersten Lockdowns half sie zunächst dieser, später einer Vielzahl anderer älterer Semester, ihr Smartphone zu verstehen. Inzwischen kann sie sich vor Anfragen kaum retten. „Viele Ältere fühlen sich abgehängt“, sagt Silva. „Vieles ist auf analogem Weg nicht mehr zu machen oder extrem schwierig und zeitaufwendig.“

Onlinebanking, Tickets, Impftermine buchen, Bezahlsysteme, WhatsApp: Wer das nicht beherrscht, könne im Alltag nicht mehr teilhaben, sagt sie. Ihre Kund*innen kommen, um das Nötigste zu lernen. „Vielen richten wir erst einmal eine E-Mail-Adresse ein. Dann bringen wir ihnen die Grundlagen bei. Wenn sie die beherrschen, entdecken sie die Möglichkeiten der digitalen Welt und wollen noch mehr lernen.“ Und: Die Älteren, die den Silber Salon aufsuchen, werden immer jünger. „Inzwischen kommen schon 40-Jährige in unsere Kurse, weil deren jüngeren Kolleg*innen mit den Augen rollen, wenn sie mal einen neuen Begriff nicht kennen“, so Silva.

Altenbildung, sagt Joya Silva, sei eine der wichtigsten Aufgaben der Politik. Datenschutz, sagen Johannes Weyer und Jeanette Hofmann, eine andere. Jede*r Einzelne ist jedoch selbst verantwortlich für den Umgang mit den Medien und der persönlichen Zeit.

Die Digitalisierung hat ihre Tücken. Aber die Bilanz, sagen Weyer, Hofmann und Silva unisono, ist positiv. Wir setzen alle auf die digitale Revolution. Am Ende sogar für die Rettung der Welt.

Text: Sebastian Holder
Grafik: Graphic farm/Shutterstock

Dieser Text wurde erstmals in der UNTERNEHMERIN (2022/2)veröffentlicht.