Große Fußstapfen gemeinsam setzen
„Das haben wir schon immer so gemacht!“ – mit diesem Satz ist ganz sicher kein Blumentopf zu gewinnen, erst recht kein Betrieb erfolgreich zu führen. 90 Prozent der deutschen Unternehmen sind familiengeführt, sie tragen 57 Prozent der Gesamtbeschäftigung und 55 Prozent des Gesamtumsatzes in der Bundesrepublik. Eine wesentliche Voraussetzung für den fortdauernden Bestand dieser starken Gruppe ist die Bereitschaft zur Veränderung, zur Wahrnehmung des Zeitgeistes und zur Anpassung an immer neue Gegebenheiten. Doch nicht alles Neue ist automatisch gut, und so liegt der potenzielle Wert der generationsübergreifenden Zusammenarbeit innerhalb eines Unternehmens in einer partnerschaftlichen Kommunikation auf Augenhöhe. Nur so kann es gelingen, Traditionen und Bewährtes zu bewahren, wo es sinnvoll ist, und mit frischem Wind zu ergänzen.Die Möglichkeit des direkten und aktiven Austauschs zwischen übergebender und übernehmender Führungsebene zeichnet Familienunternehmen im Idealfall aus. Allein in Deutschland steht bis 2026 die Übergabe von 190 000 Familienunternehmen an. Wo der Fortbestand scheitert, liegt das nicht immer an externen Schwierigkeiten. Oft sind es familieninterne Konflikte, die den Ausschlag geben. Auseinandersetzungen um die Nachfolge, um Ausschüttungen, Erbe oder Unternehmensstrategien bringen dann das Schiff zum Sinken, und so gelingt es 85 bis 90 Prozent aller Familienunternehmen nicht, bis in die vierte Generation durchzuhalten.
Wie es doch gelingen kann, macht Dr. Caroline von Kretschmann vor. In der vierten Generation führt die 55-Jährige den „Europäischen Hof “ in Heidelberg, ein Fünf-Sterne-Superiorhotel mit der Vision, „das herzlichste Luxushotel Deutschlands“ zu werden. 1865 gegründet und von ihrer Familie väterlicherseits 1906 erworben, hat das Haus eine bewegte Geschichte. Regelmäßig wurde es erweitert und mit den modernsten Annehmlichkeiten nachgerüstet, bis es 1945 von der amerikanischen Besatzungsmacht beschlagnahmt und als Hauptquartier genutzt wurde. Erst zehn Jahre später konnte Caroline von Kretschmanns Urgroßmutter – der Urgroßvater war zwischenzeitlich verstorben – das Hotel wieder übernehmen.
Als schließlich ihre Eltern die Leitung des Hauses antraten, waren beide erst Mitte zwanzig. Die Familie lebte nicht im Hotel. „Meine Eltern wollten uns nicht im Unternehmen großziehen“, so die promovierte Wirtschaftswissenschaftlerin. Ein Luxushotel sei nicht das normale Leben. „Dennoch war es wie eine große Aufmerksamkeit einforderndes drittes Kind. Das Hotel war nur zehn Minuten von unserem Zuhause entfernt, wir haben in den Gängen Fangen und Verstecken gespielt, die Urgroßmutter und Großmutter dort besucht. Und selbst wenn unsere Eltern das Hotel betreffende Themen nicht mit oder vor uns besprochen haben, so bekamen wir doch unterschwellig alles mit.“ Denn ein Unternehmen als Ort des engsten gemeinschaftlichen Lebensvollzugs ist typischerweise fest mit der Familie verbunden. Dieser Allgegenwärtigkeit könne man sich selbst in den Ferien nur schwer entziehen.
So präsent das stolze Haus im Zentrum Heidelbergs im Leben der heranwachsenden vierten Generation auch war, ließen die Eltern den Kindern beim Finden des eigenen Weges viel Freiheit. Caroline von Kretschmann und ihr älterer Bruder konnten ihren beruflichen Werdegang stets eigenständig und interessengeleitet wählen und beschreiten. Erst als der Vater 65 Jahre alt wurde, fragten die Eltern ihre Tochter und deren Lebensgefährtin, ob sie es sich vorstellen könnten, die Geschäftsführung zu übernehmen. Beide lebten zu diesem Zeitpunkt in Berlin. Von Kretschmann hatte die Metropolitan Consulting Group GmbH gegründet und war dann Geschäftsführerin einer Strategie- und Organisationsberatung geworden. Nun war sie im Begriff, mit der erfolgreichen Coachin Melanie Frowein Due Consultants zu gründen. Das Paar entschied sich gegen die Übernahme, doch das Thema ließ von Kretschmann nicht mehr los.
Ein Dreivierteljahr später war das Bedürfnis, sich das Haus doch noch mal genauer anzuschauen, dann so stark, dass sie – „mit einer zehnprozentigen Wahrscheinlichkeit, dass ich am Ende Ja sagen würde“ – hinfuhr und dem Hotel und der Nachfolge in der vierten Generation eine Chance gab. „Ich habe mich auf einen Schlag verliebt.“ Zu diesem Zeitpunkt war sie etwa 20 Jahre älter, als die Eltern es bei ihrer eigenen Übernahme gewesen waren – und hatte zusätzlich das Wissen, den eigenen Weg gegangen zu sein. Das war für sie ein Vorteil.
Und so erwies sich der Start in kleineren Portionen als der richtige Weg für die Familie und das Haus. Anfangs machte sich von Kretschmann als Beraterin zwei Tage pro Woche mit allen Bereichen des Hauses bekannt. „Wichtig war mir dabei, demütig an die Aufgabe heranzugehen und mir den Respekt des Teams, der Mitarbeiter*innen und meiner Eltern zu erarbeiten.“ So schied ihr Vater erst 2013 vollständig aus der Geschäftsführung der Betriebsgesellschaft aus und übergab das Zepter an die Wahlberlinerin.
Einer der Gründe, weshalb die Übergabe so reibungslos und erfolgreich gelingen konnte, so von Kretschmann, sei die Tatsache, dass die Eltern an entscheidenden Stellen als Unternehmer*innen agiert hätten und nicht als Eltern. In einem Familienunternehmen habe man stets drei Rollen, die es klar zu erkennen und zu unterscheiden gelte: „Sie bestehen mit dem Familien-, Unternehmens- und Eigentumssystem aus drei koexistierenden und zum Teil unterschiedlichen Logiken unterliegenden Subsystemen. In jedem System haben die Akteur*innen eine andere Rolle mit zum Teil sich widersprechenden Rollen- und Verhaltenserwartungen. Als Vater und Mutter, also als Akteur*innen des Familiensystems, in dem unter anderem der Wert der Gleichheit gilt, hätten meine Eltern meinem Bruder und mir gleichermaßen die Nachfolge anbieten müssen. Stattdessen haben sie als Unternehmer*innen entschieden und diejenige gefragt, von der sie glaubten, dass sie am besten für die Führung des Hotels geeignet ist. Denn im Unternehmen gilt der Wert der Leistungsgerechtigkeit.“
Wertvoll sei es übrigens auch gewesen, dass der Bruder die Entscheidung wiederum in der richtigen Rolle aufgenommen habe. Also nicht als Sohn, sondern als potenzieller Nachfolger, der die Entscheidung in seiner Rolle als Gesellschafter sogar guthieß. Mit der eigenen Erfahrung im Gepäck kann Caroline von Kretschmann sagen, dass ihre Generation die zweite sein wird, die keinen Druck auf die folgende aufbaut. „Wir wollen die Nachkommen nicht in die Pflicht nehmen.“ Ob Nichten und Neffen irgendwann einmal in ihre Fußstapfen treten werden, das werde die Zeit zeigen.
Auch für Dr. Alexandra Kohlmann sind Familie und Unternehmen eng miteinander verwoben. Sie war acht Jahre alt, als ihr Vater die ROWE Mineralölwerk GmbH im rheinhessischen Flörsheim-Dalsheim, einer Kleinstadt nahe Worms, gründete. „Das Unternehmen saß zu Hause immer mit am Tisch“, erinnert sich Kohlmann. „Als Unternehmer*innenkind erlebt man hautnah die guten Zeiten, aber auch die harten. Ich bin mit dem Unternehmen aufgewachsen, das verbindet natürlich.“
Alexandra Kohlmann hatte ebenfalls immer das Gefühl, ihren beruflichen Weg frei wählen und ihren Interessen nachgehen zu dürfen. In den Ferien besserte sie ihr Taschengeld durch Aushilfsarbeiten in der Exportabteilung auf, später auch am Band oder in der Abfüllung. „Es war wichtig, diese Erfahrungen zu machen, und viele der älteren Mitarbeiter*innen kannten mich schon als Kind.“ Bald war der studierten Wirtschaftswissenschaftlerin jedoch klar, dass sie von der Technischen Universität München zurück in ihre Heimatstadt Worms, vor allem aber zu ROWE wollte. „Das Lebenswerk meines Vaters fortzuführen war mir eine echte Herzensangelegenheit.“
Für ihre Promotion setzte sie sich daher sehr bewusst mit dem Thema der Unternehmensnachfolge in Familienunternehmen auseinander. „Die erste Anbahnung ist der schwierigste Teil eines Nachfolgeprozesses. Das sind in manchen Familien ja durchaus unangenehme Themen: Wer hat Interesse? Und wer kommt überhaupt infrage, ist also wirklich geeignet? In meinen Augen trägt hier die übergebende Generation eine besonders große Verantwortung. Sie sollte diese Fragen frühzeitig und transparent ansprechen. Bei meinem Vater und mir hat das fast schon idealtypisch geklappt“, erzählt Kohlmann.
Nach dem Studium stieg sie daher direkt als Mitglied der Geschäftsleitung ein und erhielt Prokura. Zusätzlich trugen das volle Vertrauen und die Wertschätzung ihres Vaters dazu bei, ihre Position im Unternehmen zu festigen. Sie stand innerhalb der Firma schnell auf solidem Grund, Kohlmann brennt für das Familienunternehmen – ihr Unternehmen. „Familienunternehmerin zu sein bringt eine enorm große Verantwortung mit sich – sowohl dafür, das Lebenswerk meines Vaters zu schützen und weiterzuentwickeln, als auch meinen Kindern ein starkes Unternehmen hinterlassen zu können. Deshalb gehe ich gern die permanente Extrameile im Alltag“, so Kohlmann.
Im Januar 2024 wird sich ihr Vater vollständig aus der Geschäftsführung der ROWE Mineralölwerk GmbH sowie der ROWE Holding GmbH zurückziehen. Alexandra Kohlmann – unter anderem Finalistin des she succeeds award – wird dann die ROWE-Gruppe führen, zu der inzwischen 15 Unternehmen gehören. Die dritte Generation hat noch etwas Zeit, die drei Söhne im Alter zwischen fünf Wochen und sieben Jahren holen sich erst einmal beim hauseigenen Rennstall ROWE Racing ihre Portion an Corporate Identity ab – so wird sich sicherlich auch der Nachwuchs für das Familienunternehmen begeistern. Weil es eben mehr ist als nur irgendein Broterwerb.
Text: Anne Rudelt
© IRINA_PRO _ Shutterstock; Julia Steinigeweg; ROWE_Santino Miskovic
Dieser Artikel wurde erstmals in der UNTERNEHMERIN 02/23 veröffentlicht.